Zum Zeitzeugenbegriff

Zeitzeugenschaft als Phänomen der Geschichtskultur

‚Zeitzeugen‘ sind kein feststehendes Phänomen der Geschichtskultur. Der Begriff ‚Zeitzeuge‘ ist erst seit Mitte der 1970er-Jahre nachweisbar. ‚Zeugenschaft‘ verweist auf jahrhundertelange kulturelle Traditionen und auch ‚historische Zeugenschaft‘ lässt sich in langen Linien zurückverfolgen. Begriffe wie ‚Zeugen der Zeit‘ haben jedoch nach 1945 bestimmte Bedeutungen und in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bestimmte geschichtskulturelle Phänomene entwickelt. In der Auswertung der wissenschaftlichen Literatur zum Thema wurde im Projekt erstmals die geschichtskulturelle und –politische Spezifik von Zeitzeugenschaft im Kontext der „DDR-Aufarbeitung“ herausgearbeitet. Dabei zeigen Entwicklungslinien in Wissenschaft, Justiz, Medien und Pädagogik, wie die Arbeit mit Zeitzeugen von Mustern der NS-Erinnerungskultur geprägt ist und sich insbesondere seit 1989/90 gewandelt hat.

WerkheftDie im Rahmen des Projekts erstmals erarbeitete kompakte Sachgeschichte von Zeitzeugenschaft, die kontextbezogen gewandelte Funktionen durch geschichtspolitische, geschichtskulturelle und mediale Entwicklungen beschreibt, ist ausführlich in der Studie „Zeit. Zeugen. Zeitzeugen“ von Peter Paul Schwarz im Werkheft „Zeitzeugenarbeit zur DDR-Geschichte“ dargestellt und kompakt und um pädagogische Kontexte ergänzt im Aufsatz von Christian Ernst und Peter Paul Schwarz „Zeitzeugenschaft im Wandel“ in BIOS 1/2012.

Spezifika der Zeitzeugenarbeit zur DDR-Geschichte

Besonders in der pädagogischen Arbeit mit Zeitzeugen entwickelte sich die Figur des ‚Zeitzeugen‘ seit den 1980er-Jahren – zunächst im Gegensatz zu offizieller Geschichtspolitik – zu einer ethisch-moralischen Vermittlungsinstanz – verbunden mit einem Opferstatus, der je nach Kontext unterschiedlich zugeschrieben wird. Entsprechende Muster wurden in den 1990er-Jahren auf die ‚Vermittlung‘ der DDR-Geschichte übertragen und von offizieller Seite oft befördert.

Weitere Spezifika der „DDR-Zeitzeugenschaft“ sind neben der 40jährigen Zeitspanne der DDR der größer werdende und – je nach historischer Phase – zugleich immer noch geringe historische Abstand und damit verbunden eine fluide Grenze von Zeitzeugenschaft und Zeitgenossenschaft. Deutungen der DDR-Geschichte hängen damit stark von persönlichen Erfahrungen ab, werden von politischen und sozialen Faktoren beeinflusst und sind weit weniger konsensual als die Beurteilung des Nationalsozialismus. Die Zeitzeugenarbeit zur DDR-Geschichte befindet sich dabei in einem politischen Spannungsfeld, das von einer häufig totalitarismustheoretisch eingefärbten Delegitimierung der DDR bis zur Forderung nach einer pluralen Aufarbeitung und kritischen Historisierung reicht. Dabei ist zu fragen, in welchem kommunikativen Verhältnis sich dabei unterschiedliche gesellschaftliche Perspektiven – gerade auch im Ost-West-Zusammenhang – befinden und ob die „Täter-Opfer“-Dichotomie ungebrochen auf die Bildungsarbeit mit Zeitzeugen zum Thema DDR übernommen werden kann.

Zeitzeugenverständnisse in der Bildungspraxis

Die ‚private‘ Perspektive der Zeitzeugen wird in ‚öffentlichen‘ Sphären kommuniziert und steht dabei im Verhältnis zu ‚offiziellen‘ Geschichtspolitiken. Wer, mit welcher Funktion und in welchem Rahmen gegenüber wem zu welchem Thema als Zeitzeugin oder Zeitzeuge gilt, unterscheidet sich je nach Kontext. Zeitzeugenschaft unterliegt damit Ein- und Ausschlusskriterien, die auch in der Bildungspraxis Anwendung finden.

Um Praxen der Arbeit mit Zeitzeugen in unterschiedlichen Verständnissen und Kontexten zu erfassen, wurde im Projekt kein normativ festgelegter Zeitzeugenbegriff zugrundegelegt, sondern eine Unterscheidung impliziter und expliziter Zeitzeugenschaft getroffen:

  • implexpl_ZzgImplizite Zeitzeugen können im Prinzip alle sein, die direkte oder indirekte Erinnerungen mit einem Ereignis, einer historischen Phase oder einem politischen System verbinden. Sietreten aber nicht als Zeitzeugen auf bzw. werden nicht als solche bezeichnet. Implizite Zeitzeugenschaft ist relevant (1.) in Bezug auf eine potenzielle explizite Zeitzeugenschaft („zum Zeitzeugen werden“), (2.) in Bezug auf geschichtskulturelle Akteurspositionen, (wenn subjektive Perspektiven von Forschenden oder Vermittelnden zum Tragen kommen) sowie (3.) in Bezug auf Kommunikationssituationen der Zeitzeugenarbeit (Zeitzeugenschaft des Publikums oder der Moderierenden).
  • Explizite Zeitzeugen sind solche, die in einem bestimmten Diskurszusammenhang öffentlich als Zeitzeugen auftreten oder präsentiert und als Zeitzeugen bezeichnet werden oder deren öffentliche Präsentation durch Rekurs auf geschichtskulturelle Muster eine solche Bezeichnung nahelegt. Je nach Kontext können sich Äußerungsposition (z. B. prominent vs. unbekannt), Äußerungssituation (z. B. Präsenz vs. Medialisierung, Vortrags-, Gesprächs- oder Interviewsituation), Perspektive (z. B. Täter- vs. Opfer-, Funktionsträger vs. Privatmensch, politische Einstellung) und Darstellungsweise (z. B. vorbereitet vs. spontan, routiniert vs. ersterzählend) erheblich unterscheiden.

Zeitzeugenschaft kann so verstanden in der Bildungspraxis vielfältige Erscheinungsformen haben. Akteure der Bildungsarbeit sollten sich in jedem Fall ihrer Auswahl- und Rahmungsfunktion bewusst sein.

OH_ZgAWichtig ist es außerdem, zwischen Oral History und Zeitzeugenarbeit in der Bildungspraxis zu unterscheiden. In der Oral History sind Interviews und Befragungen eine komplexe wissenschaftliche Methode zur Generierung von Quellen, dem transkribierten Text, der ausgewertet und interpretiert werden muss. Die pädagogische Arbeit mit Zeitzeugen kann ein solches Vorgehen in der Projektarbeit höchstens ansatzweise adaptieren. In pädagogischen Settings, in denen Zeitzeugen als Geschichtsvermittler fungieren, liefern diese Darstellungen, mit denen im Rahmen der Möglichkeiten kritisch umgegangen werden muss.