Teil 3 | Zeitzeugen in Literatur, Film und Theater

Der erste Tag der Tagung wurde durch eine öffentliche Veranstaltung im Filmmuseum Potsdam abgerundet, in der Beispiele des Umgangs mit Zeitzeugen in Kunst und Medien diskutiert wurden.

Öffentliche Lesung, Filmvorführung und Diskussion Zwischen Dokumentation und Fiktion.

Donnerstag, 14.02.2013

Zeitzeugen begegnen uns in Fernsehdokumentationen, Sachbüchern und in Veranstaltungen und erscheinen als selbstverständlicher Teil der Darstellung von Geschichte – seit einigen Jahren auch der DDR-Vergangenheit. Zeitzeugenschaft fließt vermehrt auch in künstlerische Arbeiten ein. Worin liegen die Gründe für die derzeitige Konjunktur der Arbeit mit Zeitzeugen in Kunst und Medien? Was macht sie so populär? Wo liegen die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion? Welche künstlerischen und praktischen Probleme bereitet die Verarbeitung von ‚Erlebtem‘? Und wie kann sie zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart beitragen? Die Autorin und Lektorin Dr. Susanne Krones, der Dramaturg Sebastian Brünger und der Dokumentarfilmer Thomas Grimm stellten Beispiele aus ihrer Arbeit zur Diskussion.

Dr. Susanne Krones (Autorin und Lektorin)

Dr. Susanne Krones

Dr. Susanne Krones, Lektorin des Luchterhand Literaturverlags und selbst Autorin beim Deutschen Taschenbuch Verlag (dtv), lieferte einen ‚Werkstattbericht‘ zu ihrem Roman „Tonspur. Wie ich die Welt von gestern verließ“, der 2014 bei dtv erscheinen wird. „Tonspur“ ist nach Interviews und Recherchen mit Olaf Hintze entstanden, dessen Geschichte seines Lebens in der DDR und seiner Flucht über die ungarisch-österreichische Grenze das Buch erzählt. In dem Bericht kam das Verhältnis von Dokumentation, Rekonstruktion und konzeptualisierter, fiktionaler Darstellung ebenso zur Sprache wie die Kriterien, die überhaupt erst zur Auswahl eines Stoffes führten. So habe ein wichtiger Grund, sich für diesen Stoff zu entscheiden, darin bestanden, dass die Bedeutung der großen Fluchtbewegung des Sommers 1989, von der oft nur allgemein die Rede sei, unter dem Eindruck der ‚mächtigen, strahlenden Bilder der Nacht, in der die Mauer fiel‘, oft vergessen werde.

Krones machte deutlich, in ihrem Roman solle sich die durch die persönliche Interviewform und durch Nachrecherchen gesicherte ‚Authentizität‘ der Fakten mit einer nach ästhetischen Kriterien konzeptualisierten ‚Darstellung‘ verbinden, die Leserinnen und Leser berühre. Das auf der Tagung angesprochene ‚Desiderat‘ einer Darstellung der weiteren Entwicklungen und persönlichen Erlebnisse nach 1989/90 werde dabei ebenfalls bearbeitet, insofern der Roman die frühen 1990er Jahre miteinbeziehe.

Wichtig sei Krones bei ihrer Arbeit gewesen, die Geschichte nicht als eine ‚Vorgeschichte‘ der Geschehnisse zu erzählen, die sich 1989/90 ereigneten, sondern aus sich heraus, immer auf dem Wissensstand des Protagonisten zum jeweiligen historischen Zeitpunkt, wenngleich sie parallel freilich die historische Fachliteratur zum Themenkomplex rezipiert habe, ebenso wie ähnlich gelagerte Erfahrungsberichte, Dokumentationen und Romane. ‚Erinnerung an ein ganzes Land‘ müsse immer vielstimmig erfolgen.

Im Roman werde darüberhinaus thematisiert, dass derartige autobiographische Erinnerungen, wie sie hier im Zentrum stehen, sich mit der Zeit ändern; dem werden im Roman zwei verschiedene Erzählperspektiven gerecht, außerdem eine Collagetechnik, die Bezüge zu der Literatur und Musik herstellen, die dem Protagonisten den Impuls zum Schritt in den Westen gab. Das Buch gebe in der Auseinandersetzung mit Literatur und Musik eine mögliche Antwort auf die Frage: Was ist Freiheit und welchen Wert hat sie für mich?

Ein Mitschnitt des exklusiven Werkstattberichts weit vor Erscheinen des Romans kann hier nicht zur Verfügung gestellt werden. Weitere Materialien werden sukzessive bereitgestellt.

Am Rande ihres Berichts verwies Krones außerdem auf das aktuelle, von ihr lektorierte Sachbuch „Eisenkinder. Die stille Wut der Wendegeneration“, das zum Zeitpunkt der Tagung ebenfalls noch nicht erschienen war. „Eisenkinder“ sei ein biographischer Essay der in der DDR aufgewachsenen Journalistin Sabine Rennefanz, die sich, als im Herbst 2011 bekannt wurde, dass die drei rechtsradikalen Terroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen ermordet hatten, auf eine Suche nach Erklärungen machte, die den vorschnellen, oberflächlichen Urteilen (‚Gift der Diktatur‘) etwas entgegensetzten. Die Mörder der ‚Zwickauer Zelle‘ und Rennefanz seien etwa gleichaltrig, doch hätten ihre Leben nicht unterschiedlicher verlaufen können. Dennoch stelle Rennefanz sich die Frage, was sie mit diesen Menschen, ob sie wolle oder nicht, verbinden könnte. Im Buch schildere sie ihre Jugend in Eisenhüttenstadt, ihr Leben im Hamburg der 1990er Jahre und ihre eigene ‚Radikalisierung‘ als ‚christliche Fundamentalistin‘. Ihre Spurensuche lasse sie – auch anhand von Dokumenten und Tagebuchaufzeichungen – entdecken, wie sehr sie als Jugendliche von radikalen Gefühlen beherrscht worden sei; einer unterschwelligen, stillen, heimlichen Wut, die sie nach Recherchen und Analysen nicht als individuelle, sondern als die Wut einer ‚Generation‘ auffasse. Nach der Tagung erschien „Eisenkinder“ Mitte März 2013 und löste eine breite mediale Debatte und großes Publikumsinteresse aus; der Essay hielt sich mehrere Wochen auf der SPIEGEL Bestsellerliste Paperback (ausführliche Interviews und Porträts online u. a. ARD, ZDF, MDR).

Diskussion:

Die Diskussion stellte u. a. das Moment der ‚Auswahlentscheidung‘ in den Mittelpunkt, das Lektorinnen und Lektoren in ihrem Beruf alltäglich realisieren, das aber letztlich auch in der historisch-politischen Bildung alle gestaltenden Vermittlungsinstanzen betreffe; eine Verantwortung, der man sich bewusst sein und die man reflektieren sollte.

Genauer besprochen wurde außerdem die ‚Arbeitsteilung‘ zwischen der Autorin und dem Zeitzeugen am Manuskript, die in einer inhaltlichen Verantwortung beim Zeitzeugen und einer erzählerischen und konzeptuellen Verantwortung bei der Autorin bestanden habe. Selbstverständlich sollen beide als Verfasser des Buches genannt werden.

Thomas Grimm (Zeitzeugen TV)

Thomas Grimm

Thomas Grimm, Dokumentarfilmer und Geschäftsführer des Videoportals „Zeitzeugen TV“ stellte seine von der EU-Kommission geförderte Plattform (künftig unter dem Namen „european biopic-pool“) vor, deren Aufbau, Methode und Zielsetzung er erläuterte.

Einleitend betonte Grimm, die Plattform sei offen für jegliches audiovisuelle Material, das Aspekte einer einzelnen Biographie in ihrer Gesamtheit wiedergebe. Zunächst solle von den meisten Interviewpartnern ein längeres Video zugänglich gemacht werden, um genügend Transparenz zu gewährleisten. Dies biete auch Möglichkeiten, sich intensiver mit diesen Personen zu beschäftigen. Zudem solle kenntlich sein, wann jeder Film produziert wurde. Als bemerkenswert hob Grimm den Umstand hervor, dass unterschiedliche Filmemacher aus verschiedenen Ländern bei ihrer Suche nach Zeitzeugen zu einem bestimmten Thema häufig die gleiche Person, die sich zu dieser Rolle bereiterklärt, ausfindig machen.

Die Zielsetzung der Plattform bestehe darin, eine ‚europäische Identität‘ zu fördern, worauf auch der zukünftige Name des Portals – ‚european biopic-pool‘ – hindeute, wenngleich die Bezeichnung ‚biopic‘ im englischen Sprachraum speziell für fiktionale Filme verwendet werde. Das Portal nehme ausschließlich Filme auf, die eine ‚Evaluierungsstudie‘ durchlaufen haben. Er wies abschließend auf die ‚kommerzielle Dimension‘ des Portals hin.

Diskussion:

Zeitzeugen TV

Zeitzeugen TV

Christiane Bertram fragte in der Diskussion, ob beabsichtigt sei, die Transkripte der Interviews zugänglich zu machen und ob eine Kooperation mit dem Portal „Das Gedächtnis der Nation“ bestehe. Thomas Grimm grenzte sich daraufhin von „Das Gedächtnis der Nation“ ab, da dort eine Vorauswahl stattfinde. Außerdem wies er erneut auf die von ihm wahrgenommene Notwendigkeit einer ‚Identität dieses Kontinents‘ hin. Als Auswahlkriterium, nach dem Irmgard Zündorf zuvor gefragt hatte, benannte Grimm das Thema des jeweiligen Interviews, nämlich das Leben einer Person.

Jörg von Bilavsky betonte, bei dem von ihm vertretenen Portal seien mehr Alltagspersönlichkeiten zu finden als bei dem hier präsentierten, und bot eine Kooperation beider Geschäfte an.

Sebastian Bünger (Rimini-Protokoll)

Sebastian Bünger

Sebastian Brünger präsentierte als Dramaturg der Theatergruppe Rimini Protokoll deren Arbeit mit Zeitzeugen und problematisierte die angenommene Eindeutigkeit von Realität und Inszenierung.

Brünger begann seine Präsentation mit Bezug zu Ulrike Poppes zuvor geäußerter Frage, wo Zeitzeugenschaft ende und die Inszenierung beginne, und antwortete, die Inszenierung beginne hier. Dennoch arbeite die Gruppe Rimini Protokoll mit Zeitzeugen, die Brünger als ‚Experten des Alltags‘ charakterisierte. Sobald die ‚Theatermaschine‘ laufe, sei der Rahmen für Fiktion eröffnet, aber durch den in der Theaterarbeit mit Zeitzeugen garantierten autobiographischen Pakt wisse das Publikum, dass hier auch ein Bezug zu real Erlebtem verhandelt werde.

Die Gruppe Rimini Protokoll sei interessiert an ‚Authentizitätseffekten‘‚ die sie reizen und mit denen sie ‚spielen‘ wolle. Es gehe dabei nicht um ‚die vermeintliche Wirklichkeit‘, man wolle nicht mit der Unterscheidung von ‚Fakten‘ und ‚Fiktionen‘ arbeiten.

In der Präsentation wurden Videoauszüge aus Produktionen mit Zeitzeugen eingespielt, etwa mit vietnamesischen ehemaligen Näherei-Arbeitern in der DDR und deren damaligem Vorgesetzten in „Vùng biên giới“ (2009), mit dem heutigen ‚Editor‘ Thomas Kuczynski in „Karl Marx: DAS KAPITAL, Erster Band“ (2006) oder mit dem ehemaligen Mannheimer CDU-Bürgermeisterkandidaten Sven-Joachim Otto in „Wallenstein“ (2005). Brünger betonte abschließend erneut, die Gruppe arbeite nicht an der ‚historischen Wahrheit‘, sondern an ‚subjektiver Wahrhaftigkeit‘ (Christa Wolf).

Diskussion:

Thomas Grimm wies in der anschließenden Diskussion darauf hin, dass die bisweilen von Zeitzeugen geforderte ‚Katharsis‘ ihrer ebenfalls geforderten ‚Authentizität‘ notwendig entgegenwirke. Zudem bezeichnete er Zeitzeugen als ‚typische‘ Repräsentanten ihrer Zeit.

Rimini-Protokoll

Rimini-Protokoll

Die Moderatorin Beate Rabe (Filmmuseum Potsdam) merkte an, die drei vorgestellten Projekte präsentieren alle ihr Material in künstlerisch bearbeiteter Weise und Überwältigung werde bei ihnen als positives Moment angenommen. Daran schloss sie ihre Frage an, ob ein ‚Zeitzeuge pur‘ eine ‚ästhetische Zumutung‘ sein müsse, ob er möglich und nötig sei.

Susanne Krones erwiderte, ihrer Auffassung nach suche sich der Stoff seine richtige Form. Thomas Grimm differenzierte verschiedene Verfahren, deren positive Beispiele etwa in Eberhard Fechners Fernsehproduktion über den Majdanek-Prozess „Der Prozeß“ (1984) oder Claude Lanzmanns Film „Shoah“ (1985) vorzufinden seien; Zeitzeugen auf die Funktion des Belegs für den Film zu reduzieren stellte er die Verfahrensweise entgegen, in der die Haupterzählung des Films gerade in den Erzählungen der Zeitzeugen bestehe.

Zuletzt mahnte eine Teilnehmerin, trotz aller theoretischen Überlegungen könne man von den tatsächlichen Zeitzeugen nicht einfach eine bestimmte Subjektkonstitution erwarten. Von Zeitzeugen zu verlangen, zugleich ‚authentisch‘ und reflektiert, zudem rhetorisch begabt und vieles andere zu sein, stelle eine Überforderung dar.

Fotoimpressionen: