Podium | Funktionen und Potenziale von Zeitzeugen in Wissenschaft und Geschichtskultur
Unterschiedliche Kontexte, Situationen und Öffentlichkeiten bedingen unterschiedliche Rollen und Funktionen von Zeitzeugenschaft, wie Dr. Christoph Classen einleitend bemerkte. Mit den jeweiligen Adressaten verbinden sich auch verschiedene politische Deutungsfelder und inhaltliche wie formale Erwartungen an Zeitzeugen.
Das Podium gliederte sich in zwei Teile: Während der 1. Block die Arbeit mit Zeitzeugen in der Wissenschaftspraxis und in Gedenkstätten in den Fokus stellte, befasste sich der 2. Block speziell mit der Medialisierung von Zeitzeugenschaft.
Block 1
Die Hamburger Zeithistorikerin und Oral History-Forscherin Prof. Dr. Dorothee Wierling eruierte in ihrem Kurzvortrag Unterschiede von Zeitzeugen auf der einen und Interviewpartnern der Oral History auf der anderen Seite und problematisierte die bestehende Praxis in der Arbeit mit Zeitzeugen. Dabei ließ sie auch methodische Überlegungen zu Zeitzeugenschaft einfließen.
Als Ausgangspunkt wählte Wierling die These, dass es in der Oral History – nicht als Gemeinsamkeit, sondern gerade in Abgrenzung von der Arbeit mit Zeitzeugen – nicht um Wahrheit, sondern um Wahrhaftigkeit gehe. Dagegen solle durch Zeitzeugen ein Ereignis und eine bestimmte Deutung dieses Ereignisses bezeugt werden. Während in der Zeitzeugenschaft der öffentliche ‚Auftritt‘ der Person wesentlich sei, und diese nicht eine Erzählung liefere, sondern eine ‚Aussage‘ und ‚Beglaubigung‘, werden Interviewpartner der Oral History in der Regel gezielt anonymisiert. In der tatsächlichen Praxis von Zeitzeugenarbeit determiniere der jeweilige Kontext das Thema von Zeitzeugenberichten, zu dessen Beglaubigung sie eingesetzt werden.
Zeitzeugenarbeit verbinde sich darüber hinaus mit mehreren spezifischen Versprechen, die allerdings niemals haltbar seien; gegenüber den Rezipienten verspreche sie Anschaulichkeit (der Geschichte), Authentizität (als direkter Zugang zur Geschichte verstanden), Aura und Autorität (zugunsten von Identifikation). Auf der Seite der Zeitzeugen stehe zudem das Versprechen der Anerkennung.
Wierling pointierte, das Dilemma für alle Beteiligten bestehe in der fixierten Reproduktion der reduzierten, zugeschnittenen Erzählung. Zeitzeugen, die einmal als ‚Opfer‘ aufgetreten seien, müssten dies bleiben und könnten sich nicht davon befreien, Erkenntnisgewinn auf Seiten der Rezipienten werde so unter Rahmenbedingungen, die keine Distanz, Kritik oder Zweifel ermöglichen, ebenfalls unterbunden.
Provokativ fragte Wierling, ob Öffentlichkeit der Person ihre Offenheit im Sinne von Ehrlichkeit verhindere. Ein Ausweg aus dem Dilemma der falschen Versprechungen bestehe in der ‚Konservierung von Zeitzeugen‘, einer Form der Transkription gewissermaßen, die auf einer nicht-öffentlichen, mehr Offenheit zulassenden Gesprächssituation basiert, die auratische Persönlichkeit reduziert und wiederholten Zugriff mit unterschiedlichen Fragestellungen ermöglicht. Zugunsten von Aufklärung müsse auf Aura verzichtet werden.
Entsprechend sah Silke Klewin, wissenschaftliche Leiterin der Gedenkstätte Bautzen, Funktionen und Potenziale von Zeitzeugen in der Gedenkstättenarbeit durchaus auch in deren Rollen als Tat- und Sachzeugen, die Fakten für die Historiographie neu erschließen oder als Experten eines Fachgebietes auftreten könnten.
Speziell in Bautzen werde zwar ein enger Zeitzeugenbegriff verwandt, insofern hier ausschließlich mit ehemaligen Häftlingen, also ‚Opfern‘ gearbeitet werde; Klewin machte aber auch eine steigende Tendenz bei der Möglichkeit aus, vereinzelt Sichtweisen von ‚Tätern‘ zu thematisieren. Allerdings sei Bautzen wie auch andere Gedenkstätten überhaupt erst auf Initiative ehemaliger Häftlinge entstanden und teilweise über den dortigen Opferverband finanziert worden, was eine größere Unabhängigkeit der Akteure in der Gestaltung der Gedenkstätte ermögliche.
In der Gedenkstätte Bautzen werde dezidiert keine Oral History betrieben, wenngleich Gespräche mit Zeitzeugen aufgezeichnet und intern ausgewertet werden. In den Ausstellungen arbeite man hingegen fast ausschließlich mit Aufzeichnungen und Sachzeugnissen.
Abschließend problematisierte Klewin die Reichweite der Deutungshoheit von Zeitzeugen. Ihr Einfluss auf Gedenkstättenarbeit werde etwa deutlich im novellierten sächsischen Gedenkstättenstiftungsgesetz, in dessen Präambel die Rolle von ‚Opfern‘ als Zeitzeugen festgeschrieben werde. Darüber hinaus sei es nicht grundsätzlich gewinnbringend, mit Zeitzeugen zu arbeiten; hier mangele es jedoch noch an Untersuchungen.
Danach wies Christoph Classen als Moderator zusammenfassend noch einmal auf Dorothee Wierlings Frage, wie Distanz zu gewinnen sei, sowie auf Silke Klewins Betonung von mangelnder Öffentlichkeit bei der produktiven Zusammenarbeit von Zeitzeugen und Institutionen politischer Bildung hin.
Diskussion:
In der anschließenden Diskussion präzisierte Prof. Dr. Martin Sabrow seine Vorbehalte bezüglich der ‚Konservierung‘ von Zeitzeugenschaft. Da der gegenwärtige ‚Zeitzeugenboom‘ und die Aura von Zeitzeugenschaft nur durch eine ‚imaginierte Gegenwärtigkeit‘ zu gewinnen und letztlich von lebendigen Zeitzeugen abhängig sei, könne die spezifische öffentliche Rolle von Zeitzeugen nicht konserviert werden.
Dr. Philipp Springer (BStU) monierte, über ‚Täter‘, die ihre Motive erklären könnten, sei noch zu wenig gesprochen worden. Freilich wollten solche ‚Täter‘ häufig anonym bleiben. ‚Opfer‘ als Zeitzeugen seien jedoch keine Experten für die Motive von ‚Tätern‘, die sie häufig stellvertretend erklären müssen, sondern allein für ihr ‚Opferdasein‘. Für ‚Täter‘ wie ‚Opfer‘ gelte die Notwendigkeit der Interpretation ihrer Aussagen. Silke Klewin erwiderte, Gespräche mit ‚Tätern‘ werden durchaus geführt, das mittlerweile gesetzlich festgelegte Ziel von Gedenkstätten bestehe aber in der ‚Ehrung der Opfer‘. Zugleich problematisierte sie die schwierige Zuschreibung von Bezeichnungen wie ‚Täter‘.
Dr. Hilde Hoffmann betonte, der jeweilige Kontext ermögliche Widerständigkeit, Distanz, Kritik oder Zweifel, dies sei aber eine bisher ungelöste Frage der ästhetischen Darstellung.
Daraufhin bemerkte Dorothee Wierling, Zeitzeugenarbeit sei auf Identifikation ausgelegt, was bei ‚Tätern‘ nicht angestrebt werde. Sie verwies zudem auf Zeitzeugenarbeit in der DDR, die jedoch ebenfalls nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt habe, da Identifikation mit ‚Tätern‘ dennoch stattfinde.
Der Kieler Medizinhistoriker Dr. Karl-Werner Ratschko betonte die für Historisierung nötige Reihenfolge in der Zeitzeugenarbeit; Wertung könne erst erfolgen, nachdem Zeitzeugenberichte zur Kenntnis genommen wurden und durch Quellenkritik, in den jeweiligen historisch-sozialen Kontext gesetzt, Zuschreibungen wie ‚Täter‘, ‚Opfer‘ und andere überhaupt erst ermöglicht werden.
Dr. Martina Weyrauch, die Leiterin der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung, postulierte, um Faszination und Bindungskräfte von ‚totalitären Regimen‘ zu erfassen sei ein breiterer Blick erforderlich.
Auch die stellvertretende Direktorin der Stiftung Berliner Mauer und ehemalige Bürgerrechtlerin Dr. Maria Nooke kritisierte die Zielsetzung der ‚Ehrung‘, da Zeitzeugen in ihrer Widersprüchlichkeit darzustellen seien. Dem entgegnete Dorothee Wierling, das Problem eines komplexen Umgangs mit Zeitzeugen bestehe darin, dass in deren Gegenwart den Personen Respekt gebühre und emotionale Überwältigung nicht zu verhindern sei, Quellenkritik hingegen besser erst in deren Abwesenheit vollzogen werde.
Abschließend brachte Silke Klewin zudem die Problematik der Hierarchisierung von verschiedenen ‚Opfer‘-Gruppen ein.
Block 2
Die Bochumer Medienwissenschaftlerin Dr. Hilde Hoffmann führte Funktionen von Zeitzeugenschaft anhand ausgewählter Beispiele von zwei Fernsehproduktionen vor, nämlich der Serie „Die Mauer. Eine deutsche Geschichte“ und dem Film „Der Tunnel“ von Marcus Vetter. Sie analysierte die Wirkungsweise von Deutungsrahmen und Kontextualisierungen wie Status-, Berufs- und Verhältnisbezeichnungen, der Wahl von Kameraausschnitten, Positionierung in der Dramaturgie und dem Einsatz emotionalisierender Hintergrundmusik auf diese Funktionen als Zuschreibungen unterschiedlicher Zeugenpositionen.
Dass durch bestimmte Arten der Verwendung von Zeitzeugenberichten – wie Emotionalisierung, Bestätigung des vorangegangenen, perspektivierenden Kommentars durch die verwendeten Zeitzeugenaussagen, sowie deren Rahmung durch historisches Bildmaterial und Kommentar, historischer Dekontextualisierung, homogenisierender Darstellung einer ‚Gemeinschaft der Opfer‘ – nur die vom Autor oder der dominierenden Narration eingenommene Perspektive belegt werde, mache die Interviewteile in ihrer radikalen Kürze frei kombinierbar, im Sinne der vorgegebenen Narration einsetzbar und nutzbar. Häufig trete etwa in der Serie „Die Mauer“ ein westdeutscher Zeitzeuge als dritte, strukturierende Instanz zu ostdeutschen, ästhetisch voneinander differenzierten ‚Dissidenten‘ und ‚Machthabern‘, also ‚Opfern‘ und ‚Tätern‘ hinzu; darüber hinaus werde speziell über die Figur der ‚Dissidenten‘ die DDR mit dem Nationalsozialismus parallelisiert. Die Gleichsetzung der beiden Systeme werde im Kommentar eingeführt und verlagere sich später auf die Ebene der Zeitzeugen. Auch in „Der Tunnel“ stütze sich die Dramaturgie und Argumentation auf die im Schnitt aufeinander folgenden Stichworte und Analogien aus den verschiedenen Zeitzeugenberichten.
Abschließend präsentierte Hoffmann zusammengefasst ihre Thesen; ein mittlerweile in TV-Geschichtsdokumentationen etabliertes Feld von Positionen und Funktionen von Zeitzeugen, das sich zwischen ‚Experten‘ und ‚Opfern‘ bewege, führe dazu, dass politisch divergierende Aussagen über Einführung, Kommentierung und visuelle Rahmung nivelliert und in ein scheinbar objektives Geschichtsbild überführt werden; dies erlaube eine emotionalisierende Vermittlung der Autorenperspektive, unterfüttere dominierende Deutungsweisen mit Beispielen persönlichen Leids oder persönlicher Hoffnungen und plausibilisiere solche Deutungsweisen durch rhetorische Kohärenz. Die nach 1989 dominante historische Lesart der DDR werde so als gesamtdeutscher Konsens vorgestellt.
Zudem sei die Geschichtsdarstellung mithilfe von Zeitzeugen durch die Historiographie des Nationalsozialismus geprägt. Durch die visualisierten Formen der Erinnerung ergebe sich ein ‚problematischer Bedeutungsüberschuss‘. Eine Gleichsetzung von Zeitzeugen und ‚Opfern‘ lasse die Rezipienten, die sich mit der präsentierten Perspektive identifizieren und zu ‚Zeugen der Zeugenschaft‘ werden, alle zu ‚Opfern der Geschichte‘ werden. Derartigen Verkürzungen und Konsolidierungen dominanter Deutungsweisen stehe die wissenschaftliche Oral History, die mündliche Zeugnisse als Chance gegen verallgemeinernde Aussagen gängiger Geschichtsschreibung sehe, gegenüber. Während in der Oral History die subjektive Wahrnehmung des Berichts anerkannt werde, präsentieren Fernsehformate Darstellungen als durch Interviews ermittelte Tatsachen, wobei Hoffmann auch die für Rezipienten nicht zugänglichen Interviewfragen bemängelte. Eine Entortung spezifischer historischer Erfahrung in Sendeformat und Programmstruktur finde so statt, historische Kontextualisierung bleibe hingegen aus, wodurch die Ausschnitte ihre Bedeutung aus der filmischen Argumentation (Kommentierung, Musik, Montage) erhalten und als Elemente in verschiedenste Bedeutungszusammenhänge eingefügt werden können.
Jörg von Bilavsky stellte als Geschäftsführer des vom ZDF, Bertelsmann und anderen bedeutenden Akteuren der Medienbranche getragenen Vereins „Unsere Geschichte. Das Gedächtnis der Nation“ das seit Oktober 2011 laufende Projekt eines Zeitzeugenportals im Internet vor, das Ausschnitte aus Zeitzeugeninterviews zu verschiedenen historischen Ereignissen und Themen des 20. und 21. Jahrhunderts zugänglich macht, und stellte es zur kritischen Diskussion.
Er wies auf die redaktionelle Auswertung der Zeitzeugeninterviews hin, die nach in sich abgeschlossenen Erzählungen suche und sie mit historisch einleitenden Kommentaren versehe.
Anschließend erläuterte er den Aufbau der Seite und präsentierte einzelne ausgewählte Videos zum 17. Juni 1953, deren Ziel die Einführung in historische Themen und in die Auseinandersetzung sei und nicht etwa eine umfassende, endgültig analysierende Darstellung.
Den Abschluss bildete ein Ausblick auf künftige Bestrebungen, mehr biographische und historische Informationen zu den präsentierten Zeitzeugen bereitzustellen. Hier sei der Verein für Kooperationen offen, wie sie bereits mit dem Verband der Geschichtslehrer Deutschlands bestehe.
Diskussion:
Nachdem der Moderator Christoph Classen erneut auf Martin Sabrows Beschreibung des Wandels von Zeitzeugenschaft hin zur ‚Meistererzählung‘ hingewiesen hatte, suchte Maria Nooke Aussagen des Films „Der Tunnel“ von Marcus Vetter als Zeitzeugin zu beglaubigen. Hilde Hoffmann insistierte jedoch auf der Problematik der ästhetischen Darstellung, eines ‚ausgefeilten Multimediadesigns‘ mit Zeitzeugen als ‚Stichwortgebern‘, das sich historisch entwickelt habe und nun nicht mehr zu verabschieden sei.
Auch Dorothee Wierling mahnte, da die Zeitzeugenberichte mit ihrem jeweiligen Deutungsrahmen stets eine bestimmte Wertung mit sich bringen, müsse zur wissenschaftlichen Auswertung eine Transkription der gesamten Interviews statt ausgewählter Ausschnitte zur Verfügung stehen. Jörg von Bilavsky willigte umgehend ein, die vollständigen Interviews auf Nachfrage für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zugänglich zu machen.
Martin Sabrow bestärkte Wierlings Forderung nach Distanz von Zeitzeugenberichten und bezeichnete die auf der ‚Täter‘-‚Opfer‘-Dichotomie basierende Identifikation von Zeitzeugen mit ‚Opfern‘, die nur durch ‚demütige Täter‘ als Zeitzeugen überwindbar sei, als ‚großes Entlastungsnarrativ unserer Zeit‘.
Für die bevorstehende Tagung hielt Christoph Classen als offene Frage fest, wie die bestehende Vielfalt von Zeitzeugen auch methodisch zugelassen werden könne.