Vortrag und Gespräch | Sensible Begegnungen – Zeitzeugenarbeit mit Opfern der SED-Diktatur

Den Abschluss des zweiten Teils bildete der Austausch über psychologische Dimensionen von Begegnungen mit Zeitzeugen, insbesondere mit Opfern der SED-Diktatur.

Dr. Stefan Trobisch-Lütge (Opferberatungsstelle Gegenwind)

Dr. Stefan Trobisch-Lütge

Dr. Stefan Trobisch-Lütge, Psychotherapeut und Leiter der von ihm zusammen mit dem Bürgerrechtler Jürgen Fuchs gegründeten „Beratungsstelle Gegenwind“, erläuterte, was „Trauma“ und was traumatische Strukturen für Zeitzeugen und deren Zuhörende in der Interaktion bedeuten, und gab Hinweise, worauf bei der Arbeit mit Opfern der SED-Diktatur besonders zu achten sei.

Er stellte die Aufgabenstellung der psychosozialen Arbeit mit Zeitzeugen seiner Beratungsstelle vor und wies darauf hin, dass in vielen Fällen diejenigen Menschen, die sich überhaupt bereiterklären, Zeitzeugen zu sein, zuvor bereits ihre traumatischen Erfahrungen weitgehend zu verarbeiten begonnen haben. In Einzelfällen müsse man aber die Gründe dafür berücksichtigen, dass Menschen mit bestimmten Erfahrungen sich selbst überschätzen und zu früh als Zeitzeugen auftreten wollen.

Zunächst ging Trobisch-Lütge auf die generelle psychosoziale Situation von politisch traumatisierten Personen ein und erläuterte danach einige wichtige Aspekte für die Kommunikation in der Zeitzeugenarbeit.

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Unter Verweis auf die ‚Dresden-Studie‘ (1996) von Andreas Maercker, die ergeben habe, dass ein Großteil der ehemaligen politischen Häftlinge der DDR posttraumatische Belastungsstörungen mit Symptomen wie Vermeidung, Introsionen und Übererregung aufweise, betonte er die potenziell heilsame ‚Anerkennung‘ der traumatisierten Menschen durch Zeitzeugenschaft. Weitere Symptome seien am Umgang mit eigenen Affekten zu erkennen: Affektunterdrückung und Impulsdurchbrüche, Flashbacks, hohes Misstrauen, Scham und ungerechtfertigte Selbstvorwürfe, sowie ‚Nicht vergessen können‘ weisen auf ein nicht verarbeitetes Trauma hin.

Da der Diskurs über die historische Wahrheit traumatischen Geschehens in der DDR noch längst nicht abgeschlossen sei, habe sich auch das Bewusstsein einer Gruppenzugehörigkeit im Falle von politisch Verfolgten der SED-Diktatur noch nicht stark ausgebildet. Abzuwarten bleibe, inwiefern mit der im neuaufgelegten US-amerikanischen psychiatrischen Diagnostikhandbuch DSM-V (2013) zur besseren Klassifizierung neu eingeführten ‚Verbitterungsstörung‘ die Symptome politisch Verfolgter der SED-Diktatur adäquat erfasst werden können.

Danach differenzierte Trobisch-Lütge zweierlei Gedächtnisformen; das ‚emotionale Gedächtnis‘, in dem traumatische Erfahrungen ‚gespeichert‘ werden können, fasse ‚implizite Inhalte‘, die sich auf die damals empfundene Erregung beziehen. Etwa durch Cortisolausschüttung zu bestimmten Anlässen könne dieses Gedächtnis auch ‚quasi im Körper‘ verankert sein. Die betroffenen Personen fühlen sich den eigenen physiologischen Prozessen mitunter ausgeliefert, wodurch es zu ‚Retraumatisierungszyklen‘ kommen könne. ‚Explizite Inhalte‘ hingegen fasse das ‚autobiographische Gedächtnis‘, das durch eine ‚Codierung in narrativer, symbolischer Form‘ eine hier durchaus positiv bewertete ‚Vergangenheitsumschreibung‘ ermögliche. Diese Unterscheidung sei wesentlich, da im ersteren Fall die Arbeit als Zeitzeugen zu Retraumatisierungen führen könne. Während in der psychotherapeutischen Behandlung das Maß zwischen Konfrontation und Stabilisierung gefunden werden müsse, könne Zeitzeugenarbeit diese Funktion nicht erfüllen.

Es sei jedoch auch in der Zeitzeugenarbeit darauf zu achten, wie Zeitzeugen mit Stress umgehen können, ob sie unterschiedliche Affekte bei sich selbst zulassen, oder sich beispielsweise ausschließlich Selbstvorwürfe machen. Ein entsprechender ‚diagnostischer Blick‘, der wahrnehme, ob jemand psychisch stabil und in der Verarbeitung der eigenen Erfahrungen fortgeschritten ist, sei nötig, um Überforderungen zu vermeiden. Bei ehemaligen politischen Häftlingen liege oft eine ‚Entwicklungstraumastörung‘ vor, bei der etwa die Haft das Ende einer Verfolgungsserie darstelle, die über verschiedene Stationen wie Kinderheim, Jugendwerkhof und schließlich Haftanstalt verlaufen sein könne. Die aktuelle familiäre und soziale Situation sei ebenso zu berücksichtigen wie DDR-spezifische Unterscheidungen von Systemträgern, ‚Tätern‘ und ‚Mitläufern‘. Auch die persönlichen Entwicklungen nach 1989 seien darauf zu befragen, inwieweit z. B. mangelnde Empathie oder Aufmerksamkeit sich auf die psychische Situation ausgewirkt haben.

Zusätzlich seien die Organisationsstrukturen der Zeitzeugenarbeit zu hinterfragen, also wie mit den Zeitzeugen an ihrem jeweiligen Arbeitsplatz umgegangen wird, ob sie überlastet werden und aus welchen Gründen sie dort arbeiten. Die in der Zeitzeugenarbeit bestehende emotionale ‚Asymmetrie der Kommunikation‘ sei in Bezug auf ihre Auswirkungen zur Inszenierung der Zeitzeugenschaft zu bewerten.

Zuletzt benannte Trobisch-Lütge bestimmte ‚destruktive Momente‘ in der Zeitzeugenkommunikation, die es zu vermeiden gelte: Überidentifikation, Beschuldigung oder Simulationsvorwurf, empfundene Machtlosigkeit gegenüber den Zeitzeugen, die dazu führen könne, sich vermeintlich neutral aus dem Gespräch herauszuhalten, oder die ‚wissenschaftliche‘ Missachtung von Emotionen, Ängstigung um die Zeitzeugen und Beschämung ihnen gegenüber

Ulrike Poppe (Brandenburger Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur)

Ulrike Poppe

In der Diskussion mit der Bürgerrechtlerin und Brandenburgischen Landesbeauftragten für die Folgen der kommunistischen Diktatur, Ulrike Poppe, wurden allgemeine praktische Fragen zur Zeitzeugenarbeit thematisiert und das Verhältnis von Theorie und Praxis problematisiert.

Ulrike Poppe hielt zunächst fest, der von Stefan Trobisch-Lütge vorgetragene Appell, man müsse in der Zeitzeugenarbeit einen ‚diagnostischen Blick‘ haben, verlange sehr viel – besonders von Lehrern, die Fragen nach psychischer Stabilität und Therapierung in öffentlichen, sozialen Situationen nur schwer stellen könnten.

Auf ihre Erfahrungen an der Evangelischen Akademie zu Berlin gestützt sehe sie eine Diskrepanz zwischen dem, was die Theorie erarbeitet habe, und dem, was in der Praxis umgesetzt werde. Sie hielt die aktuell von ihr wahrgenommene Tendenz für problematisch, Zeitzeugen gewinnen zu wollen, die noch nicht – öffentlich oder überhaupt – über ihre traumatischen Erfahrungen gesprochen haben, da es sich bei den Kommunikationspartnern in der – zudem öffentlichen – Zeitzeugenarbeit eben nicht um Therapeuten handle. Poppe gab auch Ratschläge zu Vorgesprächen, Zeitrahmen und Nachbereitungen oder -betreuungen. Sie wies auf die bestehende Sensibilität für das Thema Zeitzeugenschaft und speziell für die Opfer der SED-Diktatur hin und forderte, letztere nicht nur als passive ‚Opfer‘ zu sehen, sondern deren (auch inneren) ‚Widerstand‘ in den Blick zu bekommen.

Diskussion:

Dr. Jens Hüttmann & Klaus Schulz-Ladegast

Dr. Jens Hüttmann & Klaus Schulz-Ladegast

Dorothee Wierling merkte an, Stefan Trobisch-Lütge habe einen ‚engen Traumabegriff‘ verwendet, im Sinne dessen, was nicht erzählt werden kann. Aber für das ‚Publikum‘ bestehe gerade die Attraktivität von Zeitzeugen in der bei ihnen vermuteten dramatischen Leidens- und Unrechtserfahrung. Generell müsse man jedoch Fähigkeiten wie Respekt und Aufmerksamkeit lernen um sie auch in der Zeitzeugenarbeit einsetzen zu können.

Katharina Obens erzählte das Beispiel einer Zeitzeugin, die diese Rolle als sehr wichtig empfunden habe; um ihre Geschichte in einer Öffentlichkeit darstellen zu können, habe sie mitunter große Belastungen auf sich genommen. Obens selbst wolle daher nicht darüber entscheiden, wessen Zeitzeugenschaft zugelassen werde. Daraufhin merkte eine Teilnehmerin an, wenn aus einem bestimmten Interesse Zeitzeugen eingeladen werden, trage man auch die Verantwortung für diese Zeitzeugen als ‚Quelle‘. Dr. Volker Höffer (BStU) betonte, man wolle keine ‚Betroffenheitskultur‘, sondern ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ in der Zeitzeugenarbeit.

Silke Klewin fragte nach Untersuchungen zu möglichen Auswirkungen der Zahl der Führungen, die traumatisierte Zeitzeugen etwa in Gedenkstätten durchführen, auf ihre psychische Situation. Stefan Trobisch-Lütge wies in diesem Zusammenhang auf das Symptom hin, sich selbst auszubeuten.

Ulrike Poppe merkte abschließend an, die ‚berufliche‘ Ausübung von Zeitzeugenschaft mit ihren häufigen Wiederholungen führe zur Inszenierung der Erzählung. Dies könne bis zur ‚Profizeitzeugenschaft‘ übertrieben werden; wo allerdings der Übergang zwischen Zeitzeugenschaft und Inszenierung liegt, wäre der Untersuchung wert.